Estonian Startup Visa: wie man zur Startup-Nation wird

Im Januar 2017 startete Estland das Programm "Estonian Startup Visa" mit dem Zweck, Startups und Gründer für diesen baltischen Staat anzuwerben. Ein kleines Land versucht sich zur Startup Hauptstadt Europas zu etablieren. Mit Erfolg.

Estland liegt am Baltikum und grenzt im Süden an das EU-Land Lettland und im Osten an Russland. Mit 1,3 Millionen Einwohnern ist Estland etwa so einwohnerreich wie die Stadt München. Die schöne alte Hauptstadt Tallinn mit 430,000 Einwohner ist dabei kleiner als Duisburg.

Estland – Digitalisierung als Staatsmodell

Trotz seiner Größe gehört Estland in Sachen Digitalisierung seit Jahren zu den EU-Vorreitern. Schnelles Internet ist bereits vorhanden, der E-Staat funktioniert seit Jahren und dient für andere Länder als Vorbild für die Digitalisierung des Staates.

Die Esten führten die legendäre E-Residency ein: eine Möglichkeit, ein E-Bürger von Estland zu werden. Das lockte Touristen, Geschäftsleute und Digital Nomaden aus der ganzen Welt an.

Wirtschaftlich gesehen ist die Lage von Estland sehr schwierig. Für junge Menschen kann das Land nicht viel anbieten. Große Länder wie Russland, Finnland, UK oder Schweden locken immer mehr junge Esten an. Daher muss der Staat nun viel aktiver agieren.

Die Erfahrung mit dem großen Nachbarn Russland macht die Lage nicht einfacher – noch vor Jahren nutzte Moskau die Nachbarschaft und regionale Bedeutung aus. Anstatt wirtschaftlich zu handeln verwendeten die Russen jegliche Sanktionen und Einfuhrverbote gegen estnische Waren. Diese Taktik wurde so gut wie gegen jeden russischen Nachbarn angewendet.

Die estnische Regierung setzte auf die IT-Branche. Dank eines sehr überschaubaren Steuersystems und einer vorbildlichen Willkommenskultur für ausländische Investoren wurden in diesem Land mehrere IT-Riesen geschaffen: Skype wurde in Tallinn programmiert, Taxify versucht von Estland aus Uber und Lyft Konkurrenz zu machen. Pipedrive mit Sitz in Tallinn zählt zu den führenden CRM-Systemen. Fintech‘s Startup TransferWise hat auch estnische Wurzeln.

Aber die IT-Branche braucht Fachkräfte und Ideen, die in einem kleinen Land logischerweise begrenzt sind. Aus diesem Grund startete Estland ein Programm zur Anwerbung von Stratups aus Nicht-EU-Ländern.

Warum ist die EU so attraktiv für Startups aus Nicht-EU-Ländern?

Viele gute Ideen werden in den Ländern entwickelt, in denen man keine gut funktionierende Justiz hat. Korrupte Regierungen und Gerichte versperren den Weg zum Erfolg für viele Firmen, die in einem „falschen“ Land geboren wurden. Auch die geografische Lage spielt eine enorme Rolle – eine geniale Idee aus der tiefsten indischen Provinz kann man von London aus sehr wohl übersehen.

Deshalb probieren sehr viele Gründer ihr Glück im Ausland. Seit Jahren gelten die USA oder Kanada als beliebte Einwanderungsziele für geschäftstüchtige Migranten. Deutschland zählt definitiv nicht zu diesen Nationen.

Man versucht bei uns die Einwanderung generell zu beschränken. Das gilt für alle Migranten, auch für Startup-Gründer. Der Weg nach Deutschland ist für Firmen und Ideen sehr oft steinig und von bürokratischen Hürden gepflastert. Außerdem spielen die Lebenshaltungskosten eine wichtige Rolle – hier ist jedes osteuropäische Land viel interessanter.

Gleichzeitig hat Deutschland sehr viele Gebiete, in denen man ausländische Firmen ansiedeln könnte – wir sprechen nicht nur von den wirtschaftsschwachen Regionen in Ostdeutschland. Solche Städte, die gerne von den neuen Firmen profitieren würden, hätte man auch im erfolgreichen Bayern finden können.

Der Standort Deutschland könnte für Nicht-EU-Startups sehr interessant sein – das Kapital ist vorhanden, die Wirtschaft ist groß genug, sodass man so gut wie jede Idee hier vor Ort prüfen lassen könnte. Und der Sprung in die USA oder andere Märkte ist von Deutschland aus bestimmt viel leichter, als von Osteuropa. Dennoch profitieren hier andere Länder. Estland ist ein gutes Beispiel für Deutschland.

Hunderte neue Firmen und Beschäftigten gehen nach Estland

Nach 2 Jahren kann man eine erste Bilanz ziehen. Mehr als 1108 Projekte und Gründer bewarben sich für ein Startup Visum. Der Antrag wird zuerst vom Startup Commitee geprüft. Es wird gecheckt, wie gut die Chancen auf dem globalen Markt sind. Die estnische Wirtschaft ist überschaubar, daher werden nur die Ideen aufgenommen, die sich eher auf den Weltmarkt fokussieren.

Erst nach dem der Antrag genehmigt wurde, kann man ein Startup Visum beantragen. Die Gründer bekommen entweder ein 1-jähriges Visum oder einen 5-jährigen Aufenthaltstitel (temporary residence permit). Danach können sich die Nicht-EU-Gründer innerhalb der EU frei bewegen. Das erleichtert den Zugang zu Investoren und hilft, sich besser in der EU zu präsentieren. Die Mitarbeiter eines Startups sowie die Angehörigen bekommen ebenfalls ein Visum.

Die Erfolgsquote ist je nach Land unterschiedlich. Im letzten Jahr waren die Antragsteller aus Russland (67,2%), der Türkei (50,8%) und der Ukraine (48,1%) besonders erfolgreich.

Das Interesse ist je nach Land unterschiedlich groß – während man im Jahr 2018 allein aus Indien 178 Anträge bearbeitet hat (44 davon akzeptiert), kamen aus China lediglich 11 Anträge. Das Interesse besteht nach wie vor, denn bis jetzt meldeten sich Gründer aus mehr als 80 Ländern.

Die wichtigste Kennzahl für das Estonian Startup Visum ist die Anzahl der eingewanderten Gründer und Mitarbeiter. In zwei Jahren entschieden sich 931 Spezialisten für Estland – 281 Gründer und 650 Mitarbeiter. Tendenz stark steigend. Am aktivsten wanderten die Gründer aus der Ukraine, Russland, USA und aus Indien ein.

Worauf wartet Deutschland?

Faktisch geht es bei Startup Visum um eine Visa-Erleichterung, die den Geschäftsleuten aus den Nicht-EU-Ländern hilft, einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Estland nutzt ihre EU-Mitgliedschaft aus und wirbt um neue Unternehmen. Das Sozialsystem wird dabei nicht belastet, denn die Eingewanderten müssen sich selbst versorgen. Eine klassische win-win-Situation.

Für ein Visum reicht auch ein Businessplan. Jedes Start-up bedeutet auch 3-4 beschäftigte Mitarbeiter. Die Arbeitsplätze vor Ort und die Startup-Infrastruktur schaffen weitere Arbeitsplätze. Aus jedem Startup kann durchaus ein Unicorn werden. Ein estnisches Unicorn.

Ein ähnliches Programm könnte man auch in Deutschland etablieren, denn Berlin oder München könnten für die ausländischen Gründer und Mitarbeiter viel mehr anbieten als Tallinn. Deutsche VC-Investoren bekommen zur Auswahl mehrere Hunderte oder Tausende Angebote, die man finanziell unterstützen kann. Wenn ein kleines Estland mit einem recht überschaubaren Rekrutierungsprogramm innerhalb zweier Jahre mehr als 200 Startups nach Estland umziehen lassen kann, dann ginge es in Deutschland um Tausende neue Firmen. Also, worauf warten wir?

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